“Aus einem deutschen Getto”

Roman Chorweiler ist ein Randbezirk im Kölner Norden, bestehend aus 18 Veedeln, die unterschiedlicher nicht sein können. Dennoch prägen die Hochhäuser des relativ jungen Stadtteils Chorweiler das Image des ganzen Bezirks.

Wie leben die Menschen wirklich hier? Einen ziemlich hoffnungslosen Blick hinter die Häusermauern wirft Kay Löffler in seinem Roman mit einem reißerischen Titel und noch mehr schreiendem Titelbild “Aus einem deutschen Getto”. Der einzige Roman über Chorweiler ist beinahe 20 Jahre alt und dennoch ziemlich unbekannt. Keine öffentliche Lesung, kein Interview, die Verkaufszahlen stagnieren, – Chorweiler scheint ein Problem mit diesem Roman zu haben. Aber er hat es in sich.

Als Beamter im Ermittlungsdienst des Chorweiler Ordnungsamtes war Kay Löffler sechs Jahre im Bezirk unterwegs. Seine Erfahrungen schrieb er in Form eines Romans nieder, die Handlung auf eine einzige Woche komprimiert. Somit bekommt der Alltag der Ordnungsbeamten eine unglaublich intensive Dichte an Ereignissen, die den Leser bis zur letzten Seite in Spannung hält.

Nüchtern und detailgetreu beschreibt der Autor aus der Perspektive seines Hauptprotagonisten Wolfgang Hoy die Abgründe des sozialen Lebens im stigmatisierten Bezirk. Das dramaturgisch bedingte Anreihen der Fälle erzeugt ein besonders düsteres Bild von Chorweiler, dem die hellen Töne praktisch komplett fehlen. Man darf natürlich nicht vergessen, welche Perspektive die handelnden Personen haben – nämlich die der Mitarbeiter einer Behörde, die zwangsläufig nur mit Abweichungen von den sozialen Normen zu tun hat. Der Roman hat kein Happy End. Besonders für den Hauptdarsteller Hoy. Wir wollen aber nicht allzuviel aus dem Buch verraten. Lesen Sie es und bilden Sie sich eine Meinung.

Herr Löffler hat uns freundlicherweise erlaubt eine Leseprobe zu veröffentlichen. Schaffen es die Bewohner des Bezirkes eine souveräne Auseinandersetzung mit dem ziemlich polarisierenden Roman einzuleiten oder verpufft auch diese Anstrengung, ohne eine Spur zu hinterlassen? Wir sind gespannt!

26.10.2015, Alexander Litzenberger

Website des Autors: www.kayloeffler.eu

Buchdetails

  • Aktuelle Ausgabe: 01.11.2008
  • Verlag: Pernobilis Edition
  • ISBN: 9783867039246
  • 205 Seiten

Bestellbar bei: Engelsdorfer VerlagAMAZON, LOVELYBOOKS, als e-book: ciando


Aus einem deutschen Getto

Kapitel „Dienstag“, Seiten 81 bis 85

Hoy setzte Stiller im Büro ab, zusammen mit dem Neuen fuhr er dann weiter in die Okerstraße 13. – Ein Haus mit gelben Balkonen, gelben Fensterrahmen und grauen Wänden. Etwas über zwanzig Stockwerke hoch, endlose Reihen von Klingelschildern in allen Farben: handgemalt oder gekritzelt, gekaufte Schilder in Messing, silberfarben oder aus Plastik, und viele Klingelknöpfe waren über­haupt nicht beschriftet.
Der Name Balcik stand nirgends. Ein Kind verließ das Haus und gesellte sich zu den anderen, die auf der Straße spielten. Kinder mit bunt zusammengewürfel­ter, unsauberer Klei­dung.

Sie nutzten die Gelegenheit und betraten den Hausflur, noch bevor die zersplit­terte Glastür wieder zuschlug. Gemeinsam betrachteten sie die heruntergekom­menen Briefkästen. Auch hier Namensschilder in allen Variationen. Manchmal war der Name einfach in die Farbschicht hineingeritzt worden, bei einigen Briefkästen fehl­ten  die Klappen, bei anderen das Schloss, manche waren gänzlich demoliert. Doch sie hatten Glück, der Name fand sich neben einem neuen Schild mit dem Zusatz „19/4“.

Zwei kleine Aufzüge standen zur Verfügung. – Viel zu kleine Kabinen für diese Masse von Menschen, die hier wohnten, und so waren sie ständig unterwegs, von einer Etage zur nächsten. Auch hier blätterte die Farbe ab, waren einige der Tasten während einsamer Aufzugsfahrten mit einem Feuerzeug angeschmolzen, waren Sprüche und Zeichnungen in die Wände eingeritzt worden. Die Lampe war zerstört, eine kahle Neon­röhre lieferte kaltes Licht. Ein kleines Schild unter den Knöpfen wies auf das Baujahr hin: 1979.

Die Digitalanzeige oberhalb der Tür funktionierte nicht mehr vollständig. Jedes Mal, wenn der Lift hielt, um Leute aufzu­nehmen oder hinauszulassen, mussten sie einen Blick auf die gegen­überliegende Flurwand werfen. Dort wiesen große, bunte Zahlen auf das Stock­werk hin. Insgesamt hielt der Aufzug sechsmal, bis sie im neunzehnten Stock­werk ankamen. Sechs Mal roch es unterschiedlich nach Koch­dünsten, Gewür­zen, Reinigungsmitteln, Bohnerwachs, Zi­garren­rauch, Katzenurin … Im neun­zehnten Stock drang der Gestank von alten, verdorbenen Lebens­mitteln aus der Klappe des Müllschluckers, welcher der Wohnung 4 gegen­überlag. Hoy drückte er­folglos auf den Klingelknopf, hinter der Tür blieb alles ruhig. Er drückte noch einmal, das Ohr an die Tür gelehnt, vernahm aber auch diesmal weder ein Klingeln noch ein Summen und klopfte nun gegen die Tür. Als niemand öffnete, versuchten sie es bei der Nachbar­wohnung.

„Ordnungsamt Chorweiler, Hoy“, wies er sich aus und hielt der Frau seinen Ausweis vor die Nase. „Wir suchen jeman­den, der uns etwas über die Familie Balcik sagen kann.“
Die Frau sah nicht übel aus: Sie mochte um die vierzig sein, wirkte etwas mol­lig, aber attraktiv und gepflegt. Das war nicht das, was der Neue in diesem Haus erwartet hatte.
Sie schüttelte den Kopf: „Die ist doch tot. Viel mehr weiß ich auch nicht über sie.“
„Wir suchen einen Arnold Balcik. Sagt Ihnen der Name etwas?“
Abermals schüttelte sie den Kopf. „Aber die andere Nachbarin kann Ihnen da vielleicht mehr sagen. Die ging doch bei der Frau putzen …“, sie wies auf eine Tür schräg gegenüber: „Versuchen Sie es doch da einmal.“
Die nun öffnende Frau sah sie strahlend an:
„Na, endlich“, sagte sie. „Sie sind sicher die Herren der Störstelle?“
Hoy verneinte: „Tut mir leid, wir kommen vom Ordnungs­amt.“
„Ottoversand? Ich bestelle doch nur bei Quelle?“
„Ordnungsamt, gnädige Frau“, wiederholte er. „Ordnungs­amt Chorweiler.“
Die Frau war über­rascht: „Das Ordnungsamt? Wieso kommen Sie denn zu mir? Was wollen Sie über­haupt?“
Hoy druckste bei Gegenfragen zumeist herum: Einerseits konnte er die Leute verstehen, die, ehe sie Auskunft gaben, genauer wissen wollten, um was es da ging. Andrerseits durfte er auch nie zu viel erzählen, wusste aber auch, dass Schweigen die Phantasie von Befragten enorm fördert.
„Wir suchen den geschiedenen Mann der Frau Balcik“, erklärte er. „Arnold heißt er wohl. – Ist nur eine Über­prüfung der Meldeunterlagen.“
Sie nickte wissend: „Der ist doch schon lange tot. Bestimmt schon zehn Jahre.“
Hoy war erstaunt: „Tot? Sind Sie da sicher?“
„Natürlich. Ich war doch noch auf seiner Beerdigung, wenn man das so nennen kann. Der war in Urlaub gefahren. In die Türkei, glaube ich. Ist dann vier Wochen später in einer Urne zurückge­kommen.“
Der Neue und auch Hoy lächelten etwas verlegen.
„Bei uns lebt der noch“, gab Hoy zu. „Wo ist er denn beerdigt worden?“
„Na hier in Köln. Auf der Schäl Sick, Dellbrück oder so.“
„Wir sollten einmal beim Friedhofsamt anrufen“, überlegte Hoy, als sie den Aufzug verließen. „Oder beim Standesamt. Irgendwo ist wohl etwas schief gelaufen. Der war doch in Köln geboren, also ist hier beim Standesamt auch seine Geburtsur­kunde. Und dann müsste der Tod dort auch eingetragen sein.“
„Soll ich nachher mal anrufen?“
„Wie viel Uhr haben wir denn?“
„Gleich vier.“
„Können Sie auch morgen erledigen. Wir fahren jetzt noch einmal auf den Platz und dann zurück. Ich habe heute noch einen Arzttermin.“
Der Neue hielt Hoy die Tür auf. Ein ungefähr einszwanzig großer Junge, eine Zigarette lässig im Mundwinkel, drängte sich zwischen den beiden hindurch.
„Na“, sagte Hoy zu dem höchstens Elfjährigen. „Nicht was zu jung zum Rau­chen?“
Der Junge drehte sich um, starrte empor zu den Augen sechzig Zentimeter über ihm und sagte, ohne die Zigarette aus dem Mund zu nehmen, die Hände in den Taschen einer speckigen Lederjacke: „Schnauze, Alter.“
Hoy hielt sie.

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